F) Studienrat an der Oberrealschule Amberg

An meinem Namenstag, den 04.10.1949, wurde ich als Studienrat an die Amberger Oberrealschule berufen. Obwohl mir das Spitalbenefizium übertragen wurde, musste ich, bis meine Dienstwohnung frei war, bei meinen Verwandten, den „Eisen - Platzers“ hausen. Die Oberrealschule, deren Gebäude durch den Lazarettbetrieb während des Krieges sehr heruntergekommen war, war nach dem Krieg von meinem Vorgänger, dem „Relibauer“, neu gegründet worden und befand sich in vieler Hinsicht immer noch im Aufbau. Ich hatte sofort Unterricht in allen neun Jahrgangsstufen zu erteilen und zusätzlich noch den sonntäglichen Schulgottesdienst in der Schulkirche zu halten. Bezüglich der Disziplin musste ich anfangs ziemlich hart durchgreifen, denn die Kleinen waren gewohnt, mit meinem Vorgänger, dem alten Pfarrer Klein, Schindluder zu treiben. In der Oberklasse gab ich einem Schüler wegen Spickens in der Religionsschulaufgabe die 6. - Er wurde dann Priester.

 

Natürlich kümmerte ich mich sofort auch um die ND-Gruppe. Obwohl sie in den letzten Jahren kein Glück mit der geistlichen Führung hatte – einen Priester haben die Buben wegen Untätigkeit abgesetzt -, war sie gut im Schuss und zählte an die 100 Mitglieder. Aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurückgekehrte Ehemalige und befähigte Oberstufenschüler hatten das zustande gebracht. Von P. Bösl S. J., der an höheren Schulen Religionsunterricht erteilte und nur dem Namen nach Gruppenkaplan war, bekam ich das Amt des geistlichen Führers mit Handkuss.

 

Die Gruppenstunden fanden damals im Kindergarten der Georgspfarrei statt, in einem Raum, der nur durch eine Bretterwand vom eigentlichen Kinderhort getrennt war. Das brachte mancherlei Behinderung mit sich; manchmal war kein Schlüssel da und häufig wurden die Runden gestört durch Geräusche von nebenan.

 

Meine erste Sorge für die Gruppe war daher die Beschaffung eines eigenen Heims. Entgegenkommender Weise stellte uns der Leiter des Tiefbauamtes einen etwa 80 Quadratmeter großen Saal samt einem kleinen Zimmer und einem Abstellraum in seinem Baulager zur Verfügung. Dieses Heim befand sich in einem ehemaligen Ökonomiegebäude des Bürgerspitals und war durch eine Freitreppe erreichbar. Als ich eines Tages vom Unterricht nach Hause kam, sagte meine Mutter: „Gehe nur gleich in das neue Heim! Dort befindet sich der Bürgermeister mit einigen Stadträten.“ - Ich finde die Herren eifrig mit einem Maßstab hantierend und erfahre, dass sie die Quadratmeterzahl zur Festsetzung der Miete ausmessen wollen: „Meine Herren, sie bekommen von mir keinen Pfennig. Sollen wir etwa noch dafür bezahlen, dass wir uns in unserer Freizeit für die Amberger Jugend ehrenamtlich einsetzen?“ 

 

Die Gruppe nimmt nun einen gewaltigen Aufschwung. Fasching wird mit einem Elternabend gefeiert. Weich Karl bringt im März 1950 die erste Nummer unserer Gruppenzeitschrift „Der silberne Pfeil“ heraus. Allsonntäglich sind Wanderungen in die nähere Umgebung mit Geländespielen. Pfingsten ist Zeltlager bei der Schweppermannsburg.

 

Es zeigten sich auch die ersten Früchte meiner Erziehung. Meine Hausärztin erzählte mir von ihrem 13jährigen Buben: „Als wir eines Sonntags beim Frühstück waren, steht er plötzlich auf, haut mit der Faust auf den Tisch und sagt: ‚Anscheinend bin ich der einzige Katholik in unserer Familie, der in die Sonntagsmesse geht.’ -  Dann sind wir auch wieder gegangen.“

 

 

In den Sommerferien machte ich wieder, wie schon geschildert, meine Urlaubsfahrten: 1950

ins Karrwendelgebirge, 51 ins Wettersteingebirge, 52 in die Dolomiten und 53 über die Schweiz  nach Frankreich. Unsere Fahrt durch die Schweiz verlief in strömendem Regen. Ein Priester, den wir nach einem Nachtquartier fragten, riet uns, in Ingenbohl bei den Kreuzschwestern einzukehren. Weil dort kein Fremdenzimmer frei war, schliefen wir auf unseren Luftmatratzen in einem Sprechzimmer hinterm Kachelofen. Aber die frugale Fütterung brachte uns körperlich und seelisch wieder ins Gleichgewicht und die gütige Generaloberin Diomira riet  uns, zu den „Picola opera“ in Loano an der Riviera zu fahren und gab uns ein Empfehlungsschreiben an die dortigen Schwestern mit.

 

Wir hatten – wie üblich – keinen fixen Plan und überließen es dem Zufall, wohin wir kamen und was wir unternahmen. Vom Furkapass herunterkommend fuhren wir durchs Rhonetal und sahen zur Linken ein Schild: „Nach Zermatt“. Einen Trip dorthin wollten wir uns nicht entgehen lassen. Im Pfarrhof von Zermatt baten wir den Kaplan um einen Tip für eine lohnende Bergtour: „Wenn ihr nun schon einmal hier seid, dann geht doch aufs Matterhorn! Ich besorge euch einen Bergführer“. Wir schauten uns verdutzt an, denn wir hatten weder Bergausrüstung noch Bergerfahrung. Der Kaplan rief die Hörnlihütte an und die Sache war geritzt.  

Ein Bergführer nahm uns mit  zur Hütte und am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang stiegen wir mit dem vom Kaplan besorgten Bergführer auf. Mein Begleiter Pepp, der sich am Berg sicher und gewandt bewegte, hatte Steigeisen zu leihen bekommen und ging am Seil voraus. Ich mit meinen schon abgelatschten Wanderschuhen wurde in die Mitte genommen und der Bergführer machte den Schluss.

Es war herrliches Wetter und auf dem Gipfel hatten wir eine prächtige Aussicht. Nur der Bergführer drängte zur Eile, weil er sich die Kundschaft für den nächsten Tag nicht entgehen lassen wollte. Da geschah es: mitten auf dem „Dach“ im eiligen  Abstieg verlor ich einen Stiefelabsatz, glitt aus und plumpste auf den Hintern, desgleichen der Bergführer, der nach mir pickelschwingend im Schnee herunterrutschte. Ich schrie: „Pepp, grab dich ein und halt uns auf!“ – Das gelang. -  Gott sei Dank!

 

Die Fahrt ging weiter nach Frankreich bis Marseille, die Riviera entlang und natürlich nach Loano. Das Empfehlungsschreiben der Generaloberin hatte eine phantastische Wirkung. Die junge Oberin der „Picola opera“ bewirtete uns königlich und noch heute klingt mir ihre melodische Stimme im Ohr:“Prende, padre, prende!“

 

Im Oktober 54 übernahm ich die geistliche Leitung des Hirschberggaues und organisierte nach einem festen Jahresplan Führerschulungen, Exerzitien und jeweils in den Pfingstferien große Gaulager mit über 200 Teilnehmern.

 

In dieser Zeit kam auch ein kleiner Flüchtlingsjunge, Dietze Günther, aus dem Sudetengau zu uns. Ich bastelte aus zwei Rädern und einem alten Rahmen für ihn ein Fahrrad zusammen, damit er schneller zur Oberrealschule und zu den Gruppenveranstaltungen kommen konnte.

 

Nachdem ich auch das Amt eines Stadtjugendseelsorgers übernommen hatte, wollte ich die Jugendarbeit in Amberg koordinieren. Ich machte den Seelsorgern den Vorschlag, ihre Gymnasiasten der ND – Gruppe zuzuspielen. Wir würden dann im Gegenzug die Ausbildung der Jungführer übernehmen, welche  als Pfarrgruppenleiter unter sich wieder eine Gemeinschaft der Zusammenarbeit und des Erfahrungsaustausches bilden würden. Der Vorschlag fand keine Zustimmung und es blieb wie bisher: „Adveniat regnum meum!“

 

Da wegen eines geplanten Neubaus des Altersheims das Baulager verlegt und die Rückgebäude des Bürgerspitals abgerissen werden sollten, mussten wir uns um ein anderes Heim umtun. Ich besichtigte sämtliche Amberger Stadttore und fand das Ziegeltor als das weitaus geräumigste und geeignetste. Es wurde uns auch von der städtischen Behörde zugesprochen.

 

Im Herbst 1953 lief die Aktion Ziegeltor an. Wir mussten in dieser notigen Nachkriegszeit dazu nicht nur Geld sammeln, sondern auch Baumaterial. Ich nahm mir also vor, die Sägewerksbesitzer in Amberg und Umgebung aufzusuchen. Der erste sagte: “Sie kenne ich ja nicht“-„Macht nichts, sie werden mich gleich kennen lernen.“ Er lud mich zum Abendessen ein und nach jedem Gang hatte ich ein paar Quadratmeter Bretter mehr.

 Das Schwierigste aber war die Unterbringung von drei Flüchtlingsfamilien mit 12 Köpfen, die in den beiden Räumen des Ziegeltores hausten. In dieser Angelegenheit ging ich über ein Jahr lang auf  Wohnungssuche und traf häufig auf dumme Vorurteile: „Was, aus dem Turm? Die wollen wir net.“

 

Am 10. November. 1954 konnte der Heimbau beginnen. Unsere Buben legten sich dabei mächtig ins Zeug. Viele Tonnen jahrhundertealten Bauschuttes mußten entfernt werden, damit wir die neuen Mauern auf das Torgewölbe aufsetzen konnten. Tausende von Ziegelsteinen wurden per Hand mit einem Seilzug nach oben geschafft.  Dieser Einsatz mehrte die Freude an der Gruppe und schweißte die Buben zu einer festgefügten Gemeinschaft zusammen.

 

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Eine  Begegnung aus dieser Zeit ist mir in lebhafter Erinnerung. Zum  Schutz unserer  Gas-Heizkörper ließ ich in der Strafanstalt Amberg kunstgeschmiedete Gitter anfertigen und zwar von  einem noch  jungen  Sträfling, dem einzigen Sohn einer begüterten  Kunstschmiedfamilie. Er  erzählte  mir: „Mir  kann  halt   kein   Schloss widerstehen.– Es  ging  mir  gar nicht ums Geld, sondern um das prickelnde  Gefühl nach  einem   Einbruch: ‚Erwischen  sie  dich, oder erwischen  sie  dich nicht?’ –  Schuld an meinem  Unglück  ist meine  Mutter. Die  hat mich  verzogen.  Wenn  der  Vater  das   Kino verboten hat, hat mir die Mutter heimlich  das Geld  dafür  zugesteckt.  Sie  ist  deshalb auch schuld,  dass meine  Ehe  in  die  Brüche ging. Ich  kann ihr nur fluchen.“ Von  diesem  Einbruchspezialisten  bekam  ich  übrigens   auch Informationen  darüber, welche  Schlösser am Schwierigsten zu knacken sind.

Am 6.November.1955 konnten wir dann das Heim im Ziegeltor feierlich einweihen. Stadtpfarrer Pronadl nahm die Segnung vor und auch Oberbürgermeister Filbig hielt eine Glückwunschrede.

 

Die Gruppe nahm nun einen zweiten Aufschwung. Im Januar 1957 gründeten wir den „Filmdienst der katholischen Jugend“ und zeigten im Rittersaal unseres Heimes gute Filme. In dieser Zeit erschien auch unser zweites Liederbuch, die „Rundadinella“ und Honal Gerd gab ein Materialheft für die Gruppenarbeit heraus: „Vom Wölfling zum Ritter“.  Auch eine sehr bekannt gewordene Musikgruppe, die „Briktower Stompers“ wurde gegründet.

Im Keller unter dem Ziegeltor hielten die Älteren von Zeit zu Zeit Parties und luden Klassenkameraden dazu ein.

Zu einer solchen Party hatte ein Vater seinem Sprössling eine Flasche Schnaps mitgegeben, welche dieser bereits in der ersten halben Stunde konsumierte und so besoffen war, dass er mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht werden musste. Einige Tage später ließ mich Oberstudiendirektor Auer rufen, weil sich der Vater beschwert hatte, dass bei einer katholischen Organisation so etwa passieren konnte.

 

Es folgten in den nächsten Jahren die großen Gaulager: 1956 in Tännesberg, 57 bei Etsdorf, 58 bei Pleistein und ab 59 im Johannisthal mit jeweils über 200 Teilnehmern. Im Sommer 1957 war das erste Junggruppenzeltlager auf der Klosterinsel Reichenbach, das für die nächsten 20Jahre Tradition wurde. Für die älteren waren Großfahrten z.B. 1958 in die Dolomiten und 60 zur Burg Juval in Südtirol.

 

Zu Beginn der 60er Jahre waren die Amberger die tragende Gruppe des Gaues und mit über 250 Mitgliedern die stärkste Gruppe im Bund Neudeutschland. Die Gauveranstaltungen: Knappentreffen, Grund-  und Aufbauexerzitien sowie Oberrundentreffen erfolgten im festen Turnus. 

 

 Mit 45 wechselte ich vom Motorrad zum Auto und zwar kaufte ich mir einen „Tiger“, einen vierrädrigen Messerschmidt-Kabinenroller. Der Konstrukteur Fendt fuhr mich mit einem solchen Gefährt über steile Hänge und Feldwege, dass der Blechboden des Fahrzeuges über die Steine schleifte und nur so quietschte und krachte. Er bemerkte: „In schwieriger Lage sehen Sie nur zu, dass Sie die Flugzeugkabine durchbringen; die Räder fliegen dann von selber davon“. Meine Angehörigen waren freilich nicht darüber begeistert:“Du könntest dir doch einen standesgemäßen Mercedes leisten. In dieser engen Flugzeugkabine hat ja nicht einmal ein normaler Wohlstandsbürger Platz“. - „Eben deswegen!

 Der „Tiger“ war ein tolles Fahrzeug. Er hatte die direkte Lenkung eines Fahrrades und klebte förmlich auf der Straße. Im Slalom war er unschlagbar. Ich habe damit so manch brenzlige Situation gemeistert.

Einmal war es  auf der Heimfahrt von meinem Badeplatz bei den Schlauderweihern in der abschüssigen Kurve nach Paulsdorf hinunter. Damals standen am Straßenrand nicht Plastikpfähle, sondern massive Granitsäulen. In besagter Kurve also kamen mir in voller Fahrt zwei Autos nebeneinander  im Überholvorgang  entgegen. Zwischen zwei dieser Granitsäulen riss ich den Tiger aufs Bankett und wieder zurück. Meinem Beifahrer entfuhr es: “Was war das?“ – „Ein Reflex“.     

Ein andermal wollte ich von der Regensburger Strasse kommend auf der Dreifaltigkeitsstrasse ein Goggomobil überholen. Als ich bereits in Höhe der Hinterräder des kleinen Autos war, bog dessen Fahrer zum Platz vor der Dreifaltigkeitskirche ein. Ich gab Gas, riss den Tiger auf den Gehsteig – die Passanten, die allerdings noch in sicherer Entfernung waren, flüchteten – und überholte so unbeschadet.

 Auf  einer Urlaubsfahrt in Frankreich überholte ich etwas leichtfertig einen langen Lastzug in einer Rechtskurve. Und weil mitten im Überholvorgang Gegenverkehr heranrauschte, fuhr ich halb unter dem Lastzug zwischen Vorder- und Hinterrädern bis die Gefahr vorbei war.

 

Nach einigen Jahren schenkte ich den Tiger gegen eine Missionsspende von 1000.- DM einem meiner Buben, dem Sportwagenfan Heinz Schreiber. Dazu eine Zeitungsnotiz vom 2. 12. 69: „Als Heinz Schreiber mit seinem Tiger zu Beginn dieses Jahres zu den Läufen um die deutsche Slalommeisterschaft antrat, wurde er von den „heißen“ Prinzen und Fiat Abarts nur belächelt. Keiner gab dem kleinen Tiger... auch nur die geringste Chance. Doch er lehrte der gesamten Konkurrenz bald das Fürchten. Von fast jeder Fahrt brachte Heinz Schreiber einen Siegerkranz oder einen Pokal mit nach Hause... Damit gewann Schreiber die deutsche Meisterschaft überlegen.“ Ruhm und Pech für den Tiger zugleich. Auf Betreiben der Konkurrenz wurde er daraufhin nämlich disqualifiziert.    

 

In den Sommerferien 60 machte ich eine Entdeckung: Pfelders. Im Ordinariat Bozen erkundigte ich mich: „Ich suche einen abgelegenen Gebirgsort, wo ich - vielleicht in einem Pfarrhof – Unterkunft und Verpflegung bekomme und Bergtouren machen kann“. „Fahren Sie zu Pater Paul nach Pfelders!“

 

Bis Moos in Passeier war die Fahrt normal. Von dort ging es einspurig weiter: Zwei Stunden durfte man aufwärts fahren, zwei herunter; das war an einer Tafel an der alten Holzbrücke über den Wildbach ersichtlich. Die Weiterfahrt war – je nach Geschmack – wildromantisch oder  halsbrecherisch. Pfelders, auf einer Hochebene umrahmt von dreieinhalb Tausender Bergen 1600m hoch idyllisch gelegen war ein Bergbauerndorf  mit etwa sieben Höfen, einem Pfarrhof und einer kleinen Kirche, einem alten Schulhaus und zwei Wirtshäusern. Im Pfarrhof wohnten – oder besser gesagt hausten – der holländische Zisterzienserpater Paul und eine alte, spindeldürre Hauserin. Wir, mein jugendlicher Begleiter und ich, waren willkommen, erhielten eine typisch alttiroler, holzgetäfelte Schlafstube und wurden teils tirolerisch, teils holländisch gut verpflegt. Wir machten auch – rückblickend muss ich sagen etwas leichtsinnig – ohne Bergausrüstung eine herrliche Hochtour auf den nicht ungefährlichen Dreieinhalbtausender Seelenkogl.

 

Im Jahr darauf waren wir wieder bei Pater Paul zu Gast und bestiegen die Hochwilde. Als Ausrüstung hatten wir lediglich einen Pickel - unser einziger Halt bei der Überquerung der steilabfallenden Schneefelder, die dreiecksförmig in die Bergschluchten eingelagert den Steig überdeckten. Es war eine Gewalttour – an einem Tag von Pfelders zum Gipfel und wieder zu-

rück. Daraufhin schlief mein junger Begleiter zwei Nächte und den ganzen dazwischenliegenden Tag.

Eine ähnlich rasante Tour schloss sich an: Die Überquerung der Marmolata. Auf Grund unserer Erfahrung bei Besteigung der Hochwilden rüsteten wir uns mit zwei Eispickeln aus.

Auch auf dieser Tour hatten wir wieder unverschämtes Glück, oder christlich gesagt, geleitete uns die göttliche Vorsehung. Wir hatten uns in der Zeit verrechnet, denn die  Eisplatte hinauf zum Gipfel war glatt. Ich glitt aus und konnte mich gerade noch mit dem Pickel halten. So mussten wir mühselig und zeitraubend Stufen schlagen und kamen daher erst am Abend zum Gipfel. Das hätte bei dieser Kälte den Tod bedeutet, wenn – und das war das Wunderbare – wenn wir nicht wider Erwarten eine Biwakschachtel entdeckt hätten. Sie war zwar nicht gerade sauber und etwas heruntergekommen. Immerhin waren einige zerrissene Schlafsäcke da und sogar Lebensmittel mit einer Preisliste – dieses Vertrauen zu den Besuchern war wohl ein Rest aus jener Zeit, da man noch vom „Heiligen Land Tirol“ sprechen konnte. Wir kauften ehrlich ein  und wickelten uns zusammen in die Schlafsäcke und Decken. So überstanden wir heil die bitterkalte Nacht. Nach dem Erlebnis eines herrlichen Sonnenaufganges stiegen wir zur Fedaja ab. Unterwegs trafen wir eine Seilschaft mit einem Bergführer, der auf uns deutend sagte:“Vanno bene“, was unser Selbstbewußtsein gewaltig hob. Und noch eine Folge hatte diese Tour: Wir kauften Steigeisen.  

 

Nach seinem Abitur 1963 kam Stigler Gerd zu mir und beschwerte sich erbost über unfähige, fehlerhafte und faule Priester. Ich gab ihm durchaus recht und sagte: “Dann wirst eben du ein besserer!“- Fünf Jahre später hielt ich ihm die Primizpredigt.

 

Auf die Blütezeit der Gruppe folgte mit dem Generationenwechsel ein jäher Absturz nicht nur des Gruppenlebens, sondern auch der Moral und des Gottesglaubens in unserem Volk. Die Generation des harten Aufbaues nach dem Kriege hatte ihre Kinder erzogen nach dem Motto: „Unsere Kinder sollen es besser haben als wir!“ Die junge Generation genoss nun den neuen Wohlstand in vollen Zügen. Dies führte zu einem weitverbreiteten Egoismus, zu einer Auflösung aller Bindungen, auch an die Gemeinschaft von Gruppe und Bund.

 

Und das begann so: Mitte der 60er Jahre kamen die ersten Klagen: „Warum dürfen wir nicht rauchen?“ Im Gegensatz zur Dekadenz dieser Generation wollten wir nämlich nicht nur von Freiheit reden, sondern setzten ein vernünftiges Zeichen: „Wir verzichten auf den Genuss von Nikotin". Dadurch sollten sich unsere Leute freihalten sowohl von Gruppenzwängen als auch von Sucht. Zumindest von den Jungführern forderten wir diesen Verzicht – schon des Beispiels wegen. – Weitere Klagen waren: Das Hirschberg-Programm sei veraltet; wir brauchen neue Wege. Die Führerrunden seien langweilig; die Gruppe sei ein Ghetto. Der Messbesuch am Montag früh ließ erschreckend nach. Bei Theaterproben riss immer mehr Zuchtlosigkeit ein und  nicht einmal bei Exerzitien konnten Disziplin und Schweigen durchgesetzt werden.

 

Als Folge der Disziplinlosigkeit wurden uns sämtliche Quartiere, in welchen unsere Junggruppen ihre Tagungen und Freizeiten verbracht hatten, gekündigt. Am vornehmsten sagten das die Schwestern  von Tännesberg: “Personalmangel“ – Die Pfarrersköchin von Vilshofen:“D´ Neudeutschen brauchen nimmer z´ kommen. Im letzten Jahr haben sie nachts Krawall gemacht und das Essen hat ihnen a net g´schmeckt.“- Der Pfarrer von Neukirchen bei Schwandorf: “Mir ist es lieber, wenn ihr nicht mehr kommt. Die Haslbacher sind sehr aufgebracht und wollen die Amberger Neudeutschen nicht mehr sehen. Das letzte Mal waren wieder zwei Fensterscheiben eingeschlagen, der neue Ofen hatte eine ´Dellacken’ und die Mädchen mussten zwei Tage schuften, um das Haus wieder sauber zu bringen. Und wenn man die Buben zur Ordnung mahnte, wurde man bloß ausgelacht.“

 

 Wir versuchten nun mit einer „Gruppenordnung“ die Situation zu meistern - jedoch ohne Erfolg.

 

Ein Opfer dieser zersetzenden Zeitströmung wurde einer unserer Jungführer, der 16jährige Wolfram. Er war ein frischer, intelligenter Junge, der von den unteren Klassen der Oberrealschule an Mitglied unserer ND-Gruppe war. Im Sommer 1965 nahm er nicht an unseren Ferienfahrten teil, sondern besuchte ein Ferienlager in der französischen Schweiz. Dort beginnt er zu rauchen. Im Frühjahr 1966 gibt Wolfram die Führung seiner Gruppe ab und tritt aus ND aus. Er verspricht aber, seine religiöse Einstellung nicht aufzugeben. Im September 1966  wird er zum Vorbeten beim Schulgottesdienst eingeladen, lehnt jedoch ab. Seine schulischen Leistungen lassen nach. Er beginnt dann auch zu „trinken“; und weil er bei einer Party betrunken ist, wird er nicht mehr eingeladen. Er vereinsamt und verfällt mehr und mehr der Nikotin- und Alkoholsucht. Weil er während der Pause in der Toilette raucht, wird er von Lehrern zurechtgewiesen. Er bezeichnet sich als Atheisten und macht beim Schulgebet  kein Kreuzzeichen mehr. Seine Eltern beabsichtigen, ihn in ein Seminar zu geben.

Am 4. November wird er von seinem Vater wegen schulischem Versagens zurechtgewiesen. Nachmittags räumt er sein Zimmer auf, stellt die Heizung ab und bringt Bücher in die Pfarrbücherei zurück.

 Am Samstag, den 5. November, meldet der Vater bei der Polizei, dass Wolfram abgängig ist. Zur gleichen Zeit berichtet dort ein Mann, er habe am Mariahilfberg einen etwa 30 bis 40jährigen tot liegen sehen. In Begleitung der Polizei findet der Vater Wolfram tot am Boden liegend mit verkrampftem Gesicht, die Hände in die Erde verkrallt. In seiner Jackentasche findet man eine Quittung für Schlaftabletten, die er zusammen mit Alkohol eingenommen hatte. - Es war in der Gegend, wo er des öfteren mit seinen Buben Gruppenstunde gehalten hatte. Von der Bank, auf der er die tödliche Dosis eingenommen hatte, war er noch auf das gegenüberliegende Marienmarterl zugegangen und auf halbem Weg zusammengebrochen. In seiner Jackentasche fand man den Abschiedsbrie                                                                             

                                                                                                  4.11.66                                                                                                                                                                                                                                    

Liebe Eltern!

Dies ist mein letzter Gruß an euch. Ihr tragt keine Schuld an dem Schicksal, das ich mir selbst erwählt habe, wie überhaupt keiner daran schuld ist.

Ich selbst habe mich so verwandelt, dass es so kommen mußte. Noch vor 2 Jahren wollte ich die Welt aus den Angeln heben, jetzt hat sie es bei mir geschafft.

Wenn es einen Gott gibt, wird er mich für diese Tat kaum hart bestrafen.

Ich bin nicht mehr der Alte, Fröhliche und Lebenslustige wie früher. An meine Stelle ist ein passiver, griesgrämiger Kerl getreten, der gar nicht mein Ich ist. Mein Herz ist leer, wofür soll ich leben ohne Ziel mit einem Weg voller Hindernisse.

So will ich einen konsequenten  Schlussstrich unter mein unkonsequentes Leben ziehen.

Vielen Dank für alles

                                          Euer Wolfram

 

 

In diese kritische Zeit fallen zwei für mich bedeutende Erlebnisse:

Sommer 1967: Wir waren wieder auf Urlaubstour, diesmal in der Schweiz. Am „Mönch“ hatten wir einen Sturm mit Eisnadeln erlebt und befanden uns im Aufstieg zum „Finsteraarhorn“. Meinem Kameraden, einem Bergfex, wurde der Marsch durch das schier endlos erscheinende Schneefeld zu langweilig. So stiegen wir in eine Felsrippe ein, die zum Gipfel führte. Weil wir aber die Rute nicht kannten, mussten wir mehrmals umkehren, fielen beide je einmal in das Seil und gelangten schließlich nach sechsstündiger Kletterei nachmittags um vier Uhr auf dem Gipfel an. Nach dem es bisher jeden Tag ab vier Uhr nachmittags geschneit hatte, war diesmal schönes Wetter und die Sonne wärmte den Felsgrad, auf dem wir abstiegen. Nachts um neun Uhr kamen wir  wieder heil in der Hütte an. Am nächsten Nachmittag erlebten wir dann wieder ab vier Uhr die gewohnte Waschküche mit Schneetreiben. - Aber ich empfand ein Hochgefühl der Freude und Dankbarkeit über das wie neugeschenkte Leben.

 

1968 holte ich mir anlässlich des Pfingstlagers in Zottbachtal – ich hatte in einem Gasthaus übernachtet – eine Virus-Infektion. Man erzählte mir, ich sei bei der Fronleichnamsprozession wie ein gelbes Gespenst dahergekommen. Meine Hausärztin erkannte zwar die Krankheit „Cholängitis“, setzte aber die Antibiotika zu schwach ein. So kam es zweimal nur zur einer vorübergehenden Besserung. In diesen Zwischenpausen hielt ich zwei Primizpredigten für den weißen Vater Helmut Huber und für Stiegler Gerd. Beim Primizgottesdienst des letzteren war die Ärztin Dr. Segerer mit ihrer Medikamententasche und einer großen blauen Brille anwesend in der Erwartung, dass ich einen Kollaps erleiden würde.

 

Weil die Antibiotika zu schwach wirkten, musste ich ins Krankenhaus. Für mich wenig tröstend waren die beruhigenden Worte des Chefarztes: „Wir werden für Sie alles tun, was wir können.“ Sie taten auch alles und untersuchten Proben von fast allen Körperfunktionen und Körperteilen – immer mit negativem Ergebnis. Ich bekam Antibiotika in Tabletten und gespritzt in solchen Mengen, dass meine Hausärztin sagte: „Da ist nun drinnen alles kaputt.“ In dieser unklaren Situation fragte meine besorgte Mutter einen Assistenzarzt: „Nun Herr Doktor, haben Sie jetzt herausgefunden, was meinem Sohn fehlt?“ – „Wir vermuten eine seltene Krankheit, die bei uns in den letzten Jahren nur etwa dreimal vorgekommen ist.“ – „Und wie war der Ausgang dieser Krankheit?“ – Da drehte sich der Arzt zur Türe und verschwand lautlos.

Ich wusste nun Bescheid und begann, meine Grabrede aufzusetzen. Da erhielt ich Besuch einer Bekannten, die eigens von Nürnberg angereist war, einer sehr christliche Frau, die jeden Tag die Hl. Kommunion empfing. Ich begrüßte sie und sagte: „Sehen Sie, jetzt schreibe ich gerade meine Grabrede.“Sie tat einen entsetzten Aufschrei: „An so etwas darf man doch nicht denken.“ – „Warum nicht?

Man weiß heute noch nicht, welcher Virus mich damals befallen hatte. Aber ich wurde wieder gesund, wenn ich auch ein ganzes Jahr benötigte, um die eingepumpten Antibiotika loszuwerden.

 

So war es denn nun dreimal, dass der Tod mir zuwinkte: anlässlich der Anzeige bei der Gestapo, auf dem Finsteraarhorn und schließlich im Krankenhaus. Und dreimal war es ein befreiendes Glückserlebnis, als der Tod sich wieder verzog. Ich glaube, dass ich auf diese Weise erst das Leben richtig kennen und schätzen gelernt habe.

 

1968 erschien die Enzyklika „Humanae Vitae“ Papst Pauls VI., welche jede künstliche Empfängnisverhütung ablehnte und  einen weltweiten Widerspruch auslöste: Man machte dem Papst den Vorwurf, er habe sich ganz undemokratisch nicht nach der Mehrheit der von ihm einberufenen Beratungskommission gerichtet und die deutschen Bischöfe wiesen in der „Königsteiner Erklärung“ auf den Vorrang des Gewissens bei der Entscheidung über die Methode der Geburtenkontrolle hin.

 

Daraus resultierten für die Kirche folgenschwere Fehlentwicklungen: Die Forderung nach Demokratisierung der Kirche und die Verabsolutierung eines von den Geboten Gottes und der Lehre der Kirche losgelösten Gewissens, das lediglich im eigenen Wunschdenken besteht.

 

Diese Angleichung an den Zeitgeist spukte von nun an in den Köpfen vieler Theologieprofessoren, bestimmte die Diskussionen und Entschlüsse des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und infizierte auch den Bund katholischer Männer und Frauen (KFM), insbesondere den in der Folge gebildeten Arbeitskreis „Erneuerung der Kirche“. Was im Grunde ein Rückfall in die Reformationszeit war, galt nun als Fortschritt und wer an der Lehre der Kirche festhielt, wurde als reaktionär und fundamentalistisch verketzert.